Drei Allmannsweirer bei der Pariser Weltausstellung

Geschrieben von Thomas Foerster

Im Jahr 1900 lud Frankreich schon zum fünften Mal zur ‚Exposition Universelle‘, zur Weltausstellung, in seine Hauptstadt. 48 Millionen Besucher vom gesamten Planeten strömten zwischen April und November jenen Jahres nach Paris, um die Zukunft der Technik, wie auch die Bilanz eines Jahrhunderts zu bestaunen – darunter auch drei Allmannsweier. Daniel Dietrich, einer der drei Reisenden, hat über diesen Besuch ein Tagebuch verfasst, welches faszinierende Einblicke in die Welt der Jahrhundertwende und in die Sicht eines Allmannsweier Bauern auf diese Welt bietet. 

Dietrich (im Ortssippenbuch steht er unter der Nr. 339) reiste zusammen mit seinen Freunden Johann Diebold Schäfer (Nr. 1731) und einem namentlich nicht näher genannten „Sattler Herrenknecht“, der aber wohl mit Johannes Herrenknecht (Nr. 919) identisch ist. 

Am Abend des 15. Mai 1900 machte sich die kleine Gruppe auf den Weg. Am Gasthof Sonne stiegen sie um 16.30 in das ‚Bähnle‘ und führen über die Rieddörfer nach Straßburg. Von dort ging es um 20.32 weiter nach Westen. Heute bringt der TGV die eiligen Reisenden in weniger als zwei Stunden von Straßburg an den Gare de l’Est. Im Jahre 1900 war dies noch sehr anders: Über zwölf Stunden dauerte die Fahrt für unsere drei Allmannsweirer. Dies lag nicht nur daran, dass selbst die schnellsten Dampflokomotiven der Zeit kaum über 150 km/h erreichen konnten, sondern vor allem aber auch daran, dass die Grenzformalitäten äußerst viel Zeit in Anspruch nahmen. Straßburg gehörte seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zusammen mit dem Reichsland Elsass-Lothringen zum Deutschen Reich. Dementsprechend groß war das Misstrauen zwischen Deutschen und Franzosen bei den Grenzübertritten. Erst nach langem mitternächtlichem Aufenthalt im Grenzbahnhof Avricourt konnte die Reise auf französischem Boden fortgesetzt werden. Wie auch heute noch führte die Strecke über Lunéville, Nancy und Chalôns-en-Champagne (bzw. „Luneville, Nanzi und Schallo“, wie sie im Tagebuch erscheinen), bis der Zug morgens um 7.30 in Paris einfuhr.

Am Gare de l’Est wurden die Freunde von Salome Herrenknecht abgeholt, der Schwester des Sattlers, die in jenen Jahren bei ihrem Vetter Emil in der Hauptstadt lebte (dessen Vater Andreas war schon früh nach Suresnes, einen Vorort von Paris, ausgewandert, s. Nr. 904 im Ortssippenbuch). Müde scheinen die Reisenden jedoch nicht gewesen zu sein, denn nach dem Abstellen des Gepäcks machte die ganze Gruppe einen Spaziergang in den Bois de Boulogne mit seinen Gartenanlagen und Menagerien, „wo alle nur denkbaren Thiere und Pflanzen zu sehen waren“, wie Dietrich schreibt. Berührungsängste scheinen sich zunächst in Bezug auf den französischen Wein ergeben zu haben, denn in der Stadt tranken die Freunde „noch ein Glas Bairisches Bier, dann giengs nach hause“.

Tags darauf folgte der eigentliche Grund der Reise: Der Besuch der Weltausstellung. Diese fand auf 216 Hektar Ausstellungsfläche um das Marsfeld und das Seineufer wie auch im Bois de Vincennes statt. Über 70.000 Aussteller aus 40 Ländern und 21 Kolonien präsentierten ihre neuesten Erzeugnisse und technischen Innovationen. Darüber hinaus beherbergte die Ausstellung auch die zweiten olympischen Spiele der Neuzeit, die jedoch in diesem enormen Angebot kaum Beachtung fanden. Für gerade einmal 1 Franc (heute etwa 7 Euro) konnte man die Schau und ihre vielen Attraktionen genießen. Die Masse des zu Bestaunenden muss überwältigend gewesen sein – und genau so wirken auch Daniel Dietrichs Worte darüber: „Was man hier alles sieht läßt sich nicht beschreiben. Es ist einfach die ganze Welt vertreten; es ist gar nicht auszusprechen“. Vieles muss sich den Besuchern dargeboten haben, was sie noch nie gesehen hatten. Nicht zuletzt die Millionen Gäste der Ausstellung beeindruckten, Menschen aus Ländern, von denen man in Allmannsweier noch nie gehört hatte: „Man wurde müde vom schauen: Afrikaner – Indianer – Türken – Chinesen – aus allen Himmelsgegenden“.

Nach diesem Besuch widmeten sich die Freunde dem touristischen Programm der französischen Hauptstadt, einschließlich der Probleme und Preiserwägungen, die auch den Parisbesuchern des 21. Jahrhunderts nicht unbekannt sein dürften: „Auf den Eifelturm sind wir gegangen, H. Sattler, seine Schwester Salome und ich. Ich habe zum Andenken zwei Trinkgläser gekauft dort oben; für mich und meine Frau [...] Die Fahrt hinauf hat 1 Franc 80 gekostet. Das war alles im ersten Stockwerk; weiter hinauf hätte es sich verdoppelt und verdreifacht“. 

Am nächsten Tag ging die Gruppe „nach einem schönen Garten mitten in der Stadt Paris“, womit wohl der Jardin des Tuileries gemeint ist, einer der schönsten Parks Europas. Nicht aber die vielen klassischen Statuen, nicht die Teiche oder die reichen Gartenanlagen beeindruckten unsere Besucher. Voller Begeisterung schreibt Dietrich nur, dass in diesem Park „ungefähr 200 Mann Militärmußig spielten, welches die schönste Musig ist in ganz Frankreich, es war wirklich eine großartige Mußig“. Mehr Bewunderung fand am nächsten Tag der Parc des Buttes-Chaumont im 19. Arrondissement, der schon zur Weltausstellung 1867 errichtet worden war und mit seinen künstlichen Felswänden und anderen Einrichtungen zur Avantgarde der Landschaftsarchitektur gezählt wurde: „Klippen, Felsen, hohe Berge; es war wunderschön – alles elektrisch beleuchtet“.

Auch dem normalen Alltagsleben in der Stadt widmeten sich die Besucher. Am 20. Mai etwa ging Dietrich mit Salome auf den Gemüsemarkt, wo sie „Spargeln und Kirpse“ kauften. Tags darauf besuchten sie den Viehmarkt, seit den 1860er Jahren im Quartier La Vilette im Nordosten der Stadt gelegen. Sicherlich hatten alle der Besucher auf ihren Höfen in Allmannsweier ihre Rinderzucht und hatten auch schon vielen Schlachtungen beigewohnt. Einen Viehmarkt aber, der eine Weltstadt mit über 2 Millionen Einwohnern versorgte, so etwas hatte noch keiner von ihnen gesehen: „Da standen viele tausend Stück Rindvieh, Kälber, Schafe und Schweine. Da war ein blöken und ein brüllen und ein lärmen, daß man sein eigenes Wort nicht verstanden hat. Von da giengs ins Schlachthaus. Da war es ebenso merkwürdig, nichts als morden und umbringen“. 

Bald nach diesem traumatischen Anblick wandte man sich wieder den Schönheiten der Stadt zu. Auf dem Champs-Èlysées kamen sie mit einem jungen Elsässer ins Gespräch, der sehr freundlich zu ihnen war und ihnen im heimischen Dialekt die Hauptstadt erklärte. Staunend blickten sie auf „das schönste und reichste Stadtviertel, wo nichts als Millionär wohnen“. Auch der Élysée-Palast wurde ihnen gezeigt, der Amtssitz des französischen Präsidenten, zu jener Zeit Émile Loubet. „Ist auch großartig“, kommentierte Dietrich. 

Wie auch viele heutige Touristen wollten die Freunde Paris nicht besuchen, ohne Versailles zu sehen, „das Schloss in welchem die Könige und Kaiser von Frankreich gethront und gewohnt haben“. Der riesige Palast des Sonnenkönigs beeindruckte die Besucher wieder außerordentlich, genau wie der Schlossgarten, „der schönste wo man finden kann“. Nach einem Essen in Versailles – nun auch endlich mit französischem Wein („tadellos“) – trat man die damals fünfstündige Rückreise nach Paris an. Das Warenhaus Le Bon Marché in der Rue de Sèvres, noch heute eines der bedeutendsten – und schönsten – Kaufhäuser der Stadt, war das nächste Ziel: „5 Stock hoch, über 6000 Mann sind darin beschäftigt; eine unzählbare Menschenmasse war darin zu sehen“. 

Nach einem Besuch in Suresnes, „der eigentliche Wohnsitz der Familie Herrenknecht“, mit großem Mittagessen und etwas Wein, kam am 25. Mai der Tag des Aufbruchs. Noch einmal ging es in die Kaufhäuser, denn offensichtlich wollte man noch Geschenke für die Gattinnen zu Hause kaufen. Dietrich erwarb für seine Frau Katharina „einen seidenen Schurz, [...] der Meter zu 17½ Franks“, wie er stolz vermerkt.. Begleitet von den Pariser Herrenknecht-Vettern „Emil, Eduard, Andreas, Mischel“, wie auch von Salome, fuhren die Reisenden wieder zum Gare de l’Est. Um 22.30 fuhr der Zug ab, um 5.00 kam man, verschlafen, für die Grenzformalitäten in Avricourt an, um zuletzt kurz nach 10 in Straßburg einzufahren. Dort blieb man noch bis nachmittags, da an jenem Tag, dem 26. Mai, der deutsche Kaiser Wilhelm II. die Stadt besuchte, den die Reisenden auch zu Gesicht bekamen. Mit dem ‚Bähnle‘ ging es zuletzt zurück nach Allmannsweier.

Das Tagebuch schließt mit einer Rechnung: „Die ganze Reise hat mich alles mit allem 132 M gekostet“. Wie in vielem führt Dietrich genau Buch über seine Ausgaben und es lockt die Frage, ob er dies aus reiner Sparsamkeit tat, oder um sich vor seiner Frau zu rechtfertigen. Ob sie die Ausgaben von heute etwa 700 Euro zu hoch befand oder ob sie sich über das teure Geschenk des Pariser Seidenschurzes gefreut hat, wissen wir allerdings nicht.